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Ein geteiltes Schicksal – zwischen Hoffnung und Verzweiflung

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Die Entwicklung einer Suchterkrankung ist ein Prozess, eine Geschichte, die tief im Leben eines betroffenen Menschen und dessen Angehörigen verankert ist. Cunos* und Louisas* Geschichte, die sie uns mit einer entwaffnenden Offenheit anvertrauen, ist ein berührendes Zeugnis davon.

Dieses Porträt vereint zwei Perspektiven, die durch persönliche Erinnerungen geprägt sind, zu einem gemeinsamen Bild: die des 49-jährigen Cuno, der gegen die Dämonen des Alkohols kämpft, und die seiner 73-jährigen Mutter Louisa, die unermüdlich an seiner Seite steht. Cuno verbirgt hinter einer gepflegten Fassade und einer gewinnenden Eloquenz ein fragiles Inneres, während Louisa – eine zarte und zerbrechlich wirkende Frau – in sich die Kraft einer unermüdlichen Kämpferin trägt.

Cuno und Louisa haben sich auf das Gespräch vorbereitet. Louisa hat sich gar Notizen gemacht, jedes Wort bedacht. Doch als sie zu sprechen beginnt, brechen die Erinnerungen über sie herein. Tränen steigen in ihre Augen, rollen über die Wangen, aber sie spricht weiter.

Kindheit zwischen Schatten und Licht
Cuno war ein fröhliches Kind – offen, anständig, hilfsbereit und voller Energie. «Ein toller Gieu», sagt Louisa und für einen kurzen Moment blitzt ein Lächeln auf. Doch Cunos Kindheit war nicht nur unbeschwert. Sein Vater war gewalttätig. Jahrelang lebte sie in Angst. Louisa wusste, dass sie gehen musste. Als Cuno sechs Jahre alt war, trennte sich Louisa von ihrem Mann – für sich und für ihren Sohn.

Cunos Erinnerungen an seine Kindheit sind wie vergilbte Fotografien – voller Wärme, aber auch überschattet von den dunklen Wolken der elterlichen Scheidung. Ein Kampf, in dem er sich oft als Spielball fühlte. Die konfliktreiche Zeit prägte ihn, doch er fand Halt bei seiner Mutter, bei der er aufwuchs und die ihn mit Liebe und Fürsorge begleitete. Es lehrte ihn, dass selbst in tiefster Dunkelheit das Licht seinen Weg finden kann.

Die Jahre vergingen, und Cuno wuchs zu einem pflichtbewussten jungen Mann heran. Er absolvierte eine Lehre zum Forstwart, arbeitete mit Hingabe, war zuverlässig und genoss die Anerkennung seines Lehrmeisters. Er hatte sich seinen Platz im Leben geschaffen, glaubte an sich und seine Zukunft. Doch dann kam der Tag, der alles zerstörte – und der Beginn eines Albtraums, aus dem weder Cuno noch Louisa je ganz erwachen sollten.

Vom Lebensretter zum Zerstörer
Cuno scheiterte an der Lehrabschlussprüfung. Er war durchgefallen. «Das kann nicht sein», dachte Louisa. Cuno verstand die Welt nicht mehr. Er hatte die Prüfungsarbeiten genauso ausgeführt, wie er es gelernt hatte. Später stellte sich heraus, dass ihm drei Jahre lang falsche Arbeitsschritte beigebracht worden waren ... Die nicht bestandene Prüfung war für Cuno mehr als nur eine verpasste Chance. Sie war ein Verrat an seinem Pflichtbewusstsein und seinem Ehrgeiz und zerstörte seinen Glauben an die Zukunft. Etwas in ihm zerbrach.

An diesem Tag wollte Cuno sich das Leben nehmen. Eine Harasse Bier war sein letzter Begleiter. Doch der Alkohol, der ihn hätte betäuben sollen, verhinderte seine Tat – Cuno war zu betrunken, um seinem jungen Leben ein Ende zu setzen. «Alkohol hat mir das Leben gerettet», behauptete Cuno später. Doch in Wahrheit nahm der Alkohol ihm und seiner Mutter an diesem Tag das Leben, wie sie es bis dahin kannten. Von diesem Tag an war Cuno nicht mehr derselbe. Er verlor seine Lebendigkeit, wurde antriebslos, blieb von morgens bis abends im Bett. Und er trank. Das Trinken verschlimmerte sich während der Zeit in der Rekrutenschule. «Die Sauferei in der Rekrutenschule war ganz schlimm», so Louisa.

Nach der Rekrutenschule war Cuno mittendrin – verloren in einem Strudel der Selbstzerstörung. Absturz folgte
auf Absturz. Und schliesslich kam es zum Totalschaden: Als seine Liebe zu einer Frau unerwidert blieb, liess sich Cuno «volllaufen». Mit betäubtem Herzen setzte er sich ins Auto, trat aufs Gaspedal und verlor die Kontrolle. Cuno verunglückte in einem Weiher – nur unweit des Elternhauses seiner Angebeteten. In diesem Moment wurde ihm schmerzhaft klar, dass er dringend Hilfe brauchte.

Zwischen Therapie und Absturz
Cuno begann eine Therapie mit Antabus – einem Medikament, das ihn vom Trinken abhalten sollte. Das ging eine Zeit lang gut. Cuno trank nicht mehr. Dann aber fiel er in eine tiefe Depression, Schlafprobleme kamen hinzu. Cuno zog sich zurück. Er fühlte sich ausgelaugt und leer. In dieser Zeit begann er zu kiffen – ein Heilmittel, wie er glaubte. «Wäre das Saufen verboten, das Kiffen erlaubt, es ginge uns besser, auch wenn ihr’s nicht glaubt», war seine Parole. Cannabis gab ihm Ruhe und Halt, es liess ihn «funktionieren». Doch das war nur eine weitere Illusion. «Seine Sucht hatte sich verlagert», so Louisa. Irgendwann kehrten die Schlafprobleme zurück – trotz Cannabis.

Sie beeinträchtigten seine Arbeit, bis er schliesslich seinen Job verlor. Arbeitslos lebte er von den Ersparnissen seiner Eltern. «Nur so lange, bis ich wieder einen Job habe», sagte er sich. In dieser Zeit setzte er Antabus ab, blieb aber weiterhin «trocken». «Fünf Jahre lang bezahlte ich alles für ihn», erinnert sich Louisa. «Ich wollte nicht, dass er aufs Sozialamt muss.» Doch als das Geld aufgebraucht war und keine neue Arbeitsstelle in Sicht, blieb Cuno keine Wahl. «Der Gang zum Sozialamt zog mir den Boden unter den Füssen weg», sagt er. «Gleich nach dem Termin trank ich zwei Flaschen Bier.»

Schluck für Schluck kehrte der Alkohol in sein Leben zurück – und mit ihm die Abstürze, die nicht nur Cunos Selbstbild zermürbten, sondern auch Louisa in eine schier endlose Angst stürzten ... Für Louisa begann ein jahrelanger Kampf. Sie informierte sich über das Thema Suchterkrankung, besuchte Selbsthilfegruppen und suchte psychologische Unterstützung, um zu verstehen, wie sie ihrem Sohn beistehen kann. Heute sagt sie: «Ich kann Cuno den Weg aus der Sucht aufzeigen, aber gehen muss er ihn selbst.» Ihre Stimme ist gleichzeitig erfüllt von Hoffnung und resignierter Traurigkeit.

Jeder Absturz fordert seinen Tribut. «Von Cuno gibt es zwei Versionen», sagt Louisa. «Den nüchternen Cuno, der gut mit Menschen kann und sich gut artikuliert, und die besoffene Version. Cuno ist betrunken ein komplett anderer Mensch und macht Sachen, die er nüchtern niemals tun würde. Und ich kann es nicht verhindern.» Immer wieder bekommt sie nächtliche Anrufe – von der Polizei, von Krankenhäusern, von Fremden. Immer wieder muss sie Cuno irgendwo abholen. Louisa lebt bis heute in permanenter Angst um ihren Sohn. «Unsere beiden Leben sind mit der Sucht kaputtgegangen», sagt sie leise. «Die schlimmen Alkoholabstürze hören nicht auf.»

Seine Filmrisse machen Cuno auch Angst. Was hat er gesagt? Was hat er getan? Wer war er, als er betrunken war? «Wenn ich besoffen bin, bin ich ein Arschloch», gesteht er mit schmerzlicher Klarheit. Freund:innen wandten sich von ihm ab oder halten ihn auf Distanz. «Ich war ihr ‹Amor›», erzählt er über ein Paar, das er einst zusammenbrachte. «Sie luden mich zwar zur Hochzeit ein, aber nur zum Empfang nach der Trauung. Dem eigentlichen Fest musste ich fernbleiben.» Die Angst, dass er trinkt, sich danebenbenimmt und ihnen die Feier ruiniert, war zu gross. Cuno versteht diese Entscheidung – und es schmerzt ihn.

Mit jedem Absturz verliert Cuno ein Stück mehr von sich selbst – und Louisa ein Stück ihres Lebens. Die Anrufe mitten in der Nacht, die panische Angst um ihren Sohn, die hilflosen Wutanfälle, wenn er betrunken ist – all das frisst an ihr. Doch sie gibt nicht auf, Louisa kämpft weiter. Und auch Cuno steht nach jedem Fall immer wieder auf, getrieben von dem unerschütterlichen Willen zu leben. Nach jedem Absturz sagt er: «Jetzt ist fertig, ich trinke keinen Schluck mehr.» «Er zeigt, dass er will. Er will doch», sagt Louisa leise. «Er will, aber Alkohol ist überall – im Supermarkt, an der Tankstelle, an jeder Feier ...»

Kleine Erfolge, grosse Hoffnungen
Cuno hat bereits zahlreiche Entzüge hinter sich. Seinen letzten Entzug machte er in der Klinik Selhofen. Dort fand
er einen Ort, der ihm Halt gab. «Ich konnte viel aus meinem Aufenthalt mitnehmen. Das kreative Arbeiten im Atelier sowie Yoga und Pilates halfen mir, zur Ruhe zu kommen. Am meisten profitierte ich jedoch von den intensiven Einzelgesprächen, wo ich über alles reden konnte.» Die Zeit in der Klinik Selhofen half Cuno, die Scherben seiner Vergangenheit aufzusammeln und seine Lebensgeschichte zu verarbeiten. Er fand seine innere Balance wieder und tankte neue Kraft im Austausch mit den anderen Patient:innen.

«Ich wusste, dass Cuno in der Klinik Selhofen gut aufgehoben ist», so Louisa. Sie konnte während dieser Zeit endlich durchatmen, schlafen, zur Ruhe kommen. Louisa ging wandern, traf Freund:innen und unternahm Dinge, die im Schatten von Cunos Sucht oft nicht möglich sind. Doch die Frage blieb: Was kommt nach dem Klinikaufenthalt?

«Heute bin ich weiter als früher und kann einige Teilerfolge vorweisen. Ich kiffe nicht mehr und bin ruhiger und gelassener geworden», so Cuno. Sein grösster Wunsch ist es, nie mehr abzustürzen und in diesen Sog aus Verzweiflung und Scham zu geraten. Er weiss, dass der Weg steinig ist. Aber er geht ihn. Immer wieder. Weil er leben will.

Und Louisa, sie kämpft mit, leidet mit, hofft mit. Seit 25 Jahren kämpft sie, hofft, dass Cuno es endlich schafft, frei von der Sucht zu leben. «Er will doch», sagt sie. Louisa ist müde, aber sie gibt nicht auf. Sie kämpft weiter – für Cuno.

* Pseudonyme, Namen der Redaktion bekannt

 

Autorin: Andrea Eichmüller, Leiterin Marketing

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